Entscheidung treffen in »sicheren« Zeiten:
Wenn die Demokratie keine Wahl mehr hat
Endlich herrschte wieder mal eine »Hurra-Stimmung« in Deutschland. Der Kandidat für das höchste Amt im Staat konnte endlich ausgerufen werden: Frank-Walter Steinmeier. Endlich hat man sich auf »den Richtigen« verständigt. Endlich hat sich auch Bundeskanzlerin Angela Merkel zu einem »Ja« für den bisherigen obersten Diplomaten Deutschlands durchringen können.
Und es ist in der Tat begrüßenswert, wenn es für einen Kandidaten in politischen Ämtern eine breite Zustimmung und eine parteiübergreifende bürgerliche Mehrheit gibt; so denken viele. Doch gerade die Geschichte unseres Landes lehrt, dass eine breite Zustimmung allein kein Entscheidungskriterium sein sollte. So gibt es zwar Gegenkandidaten, aber deren Kandidatur ist schon von vorneherein – wie auch der medialen Berichterstattung entnehmbar – aussichtslos. Dabei birgt gerade eine scheinbare Alternativlosigkeit die Gefahr, dass einem Kandidaten für ein politisches Amt ungeprüft große Macht verliehen wird. Ungeteilte voreilige Zustimmung verhindert eine intensive und inhaltliche Auseinandersetzung mit den politischen wie auch gesellschaftlichen Positionen und Werten eines Kandidaten. Denn nur die wenigsten – so der gegenwärtige Eindruck – haben sich mit dem Kandidaten Steinmeier tatsächlich inhaltlich auseinandergesetzt.
Für das Amt des Bundespräsidenten gelten andere Anforderungen als für den Posten des Kanzler-amtschefs – den Frank-Walter Steinmeier unter Kanzler Gerhard Schröder innehatte. Ebenso sollte ein Außenminister, als außenpolitisch ranghöchster Diplomat, andere Fähigkeiten besitzen als ein Staatsoberhaupt – auch wenn viele dies zurzeit nicht sehen wollen. Stattdessen bleibt es für viele Deutsche dabei: »Steinmeier, den kenn´ ich« und »der ist doch gut« oder »wer soll es denn sonst machen«. Doch offen bleibt dabei: Für welche gesellschaftlichen Werte steht Frank-Walter Steinmeier und welches Zukunfts-bild von Gesellschaft hat er – für Deutschland und die Welt? Wie positioniert er sich in Fragen des Völkerrechts, dessen erster Verantwortungsträger er als Bundespräsident ist. Als Außenminister galt es für ihn – gerade in der aktuellen weltpolitischen Lage – vorrangig in einer Vermittler- und Unterhändlerrolle auf multinationaler Ebene aktiv zu sein. Krisenherde besuchen, Lösungen vermitteln und als Teil der großen Koalition Konsenspolitik zu machen. Doch als Bundespräsident fehlt ihm ein direkter tagespolitischer Einfluss. Ist Frank-Walter Steinmeier als karrierebewusster Polit-Profi tatsächlich die »richtige Wahl« oder war es lediglich ein genialer politischer Schachzug angesichts verstellter Zukunftsoptionen in der eigenen Partei? So ist es mehr als fraglich, ob ihm als langjährigen, erfahrenen und gut vernetzten Parteipolitiker mit ehemaligen Kanzlerambitionen ein ähnlich ehrliches Wort zuzutrauen ist, wie dem Bundespräsidenten a.D. Richard von Weizsäcker. Dieser kritisierte in seiner Amtszeit die Parteien scharf, weil sie zu sehr darauf aus seien, die nächste Wahl zu gewinnen anstatt die langfristigen Probleme des Landes zu lösen. Oder legt schon die Auswahl seiner Person als Kandidat nahe, dass es ihm – und seinen Kollegen – eher um genau diese temporäre Wahrnehmung der Stimmung im Land geht, als um ehrliche und zukunftsorientierte Politik.
Das Amt des Bundespräsidenten zwischen individuellem Entscheiden und verpflichtender Tradition
Nimmt man das Amt des Bundespräsidenten an sich in den Blick, so kann dieser keiner der drei klassischen Gewalten des Staates (Legislative, Judikative, Exekutive) zugeordnet werden. Stattdessen führt er sein Amt als eine Gewalt sui generis. Dabei prägt die Persönlichkeit des Amtsinhabers seine Amtsführung in besonderem Maße. Es handelt sich eben um ein Verfassungsorgan, dass – im Gegensatz bspw. zur Bundesregierung oder dem Bundesrat – von nur einer Person gebildet wird. Und dieses Amt wird – zumindest bislang – sehr stark von Traditionen geprägt und ausgefüllt, die allesamt weder gesetzlich noch verfassungsrechtlich festgeschrieben sind. So ist beispielsweise die parteipolitische Neutralität keine justiziable Vorgabe, sondern Tradition. Auch die Nicht-Einmischung in die Tagespolitik ist keine Vorgabe der Verfassung, sondern der Tradition. Ebenso ist ein Bundespräsident nicht auf ausschließlich repräsentierende Aufgaben beschränkt, sondern es gibt einen großen Spielraum in der Gestaltung seiner Meinungsäußerungen. Zudem hat der von vielen zu Unrecht als »Grüß-August« verunglimpfte Bundespräsident als einziger das Recht, eine Kriegserklärung im Namen der Bundesrepublik Deutschland zu verkünden. Ebenso kann der Bundespräsident – der vielfach nur wie ein Staatsnotar wirkt – beispielsweise die Ernennung von Bundesrichtern verweigern. Bundespräsident a.D. Heinrich Lübke hat als erster von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht. Es ist also kein ausschließlich repräsentierendes Amt, sondern eines mit großer Wirkmöglichkeit – nach innen wie auch außen. Und es gilt, die beste Wahl zu treffen und nicht nur ein Signal zur Beruhigung des Volkes zu geben.
Doch mit Blick auf die Besetzung des Amtes durch Frank-Walter Steinmeier scheinen selbst diejenigen, die ansonsten eine Ent-Politisierung Deutschlands diagnostizieren, von dieser »Wahl« begeistert und damit »beruhigt«. Könnte doch, so die Annahme, ein solch populärer Mann wie Frank-Walter Steinmeier dazu beitragen, dass die Menschen in Deutschland tatsächlich wieder Vertrauen in die Politik zurückgewinnen. Aber ist nicht ebenso ein Ausgang wie bei zerstrittenen Kindern erwartbar: Kommt die Mutter mit einer Packung »Schokoküsse«, ist aller Streit schnell verzogen und die Zeit des gemeinsamen Essens wird genossen – ist die Packung leer, geht es oftmals noch erbitterter zu als zuvor (»Du hattest aber mehr Schokoküsse, als ich«).
Zur Wahl des Bundespräsidenten wird nun die Bundesversammlung einberufen. Diese konstituiert sich aus den zurzeit 630 Bundestagsabgeordneten und ebenso vielen Delegierten der Bundesländer. Diese machen dabei von der Möglichkeit Gebrauch nicht nur Vertreter der Länder selbst, sondern auch von Prominenten aus Sport, Kultur und Gesellschaft zu entsenden. Und gerade diese Entsendung zur Bundesversammlung macht deutlich: die Demokratie in Deutschland – als »Herrschaft des Staatsvolkes« – hat keinen Biss mehr. So würde man einem Kabarettisten wie Volker Pispers noch eine klare politische Meinungsfindung zutrauen – aber wer käme auf den Gedanken, die Schauspielerin Veronica Ferres oder den Schlagersänger Roland Kaiser den Vertreter des höchsten deutschen Staatsamtes (aus-)wählen zu lassen, um nur zwei Beispiele zu nennen. Welche politische Kompetenz traut man diesen zu – oder wäre dann nicht auch Susanne Sorglos aus Bochum-Mitte ebenso geeignet für eine Mitgliedschaft in der Bundesversammlung.
Befeuert eine solche Personenauswahl für die Bundesversammlung nicht eher den Ruf zur Abkehr von einer parlamentarischen Demokratie? Oder geht es auch hier schlicht darum »Vertrauen« bei der Bevölkerung durch »Bekanntheit« der Wahlmänner und -frauen zu erreichen. Doch kennen wir diese Persönlichkeiten – ihre Einstellungen, Werte und politische Kompetenz – wirklich in dem Maße, dass sie unser Vertrauen rechtfertigen? Bei einer Direktwahl des Bundespräsidenten hätte das Volk die Möglichkeit, einen »Volksanwalt« als möglichen Ober-Kritiker gegen Parlament und Regierung zu wählen. Ein Gedanke, der gerade Obrichkeitskritikern und Politikverdrossenen attraktiv scheinen mag. Doch ist ein Volk wirklich mündig, eine Wahl dieser Tragweite zu treffen – die Auseinandersetzung mit einem alternativlosen Kandidaten macht die Trägheit der Masse und deren Unfähigkeit leider nur zu sehr deutlich. Mancher mag nun einwenden: Aber was soll man denn tun? – Selbst denken, eine (fundierte) Meinung bilden und diese anschließend auch vertreten. Denn ein Zitat von Martin Luther King passt sowohl auf diese Situation wie auch auf die gegenwärtige Situation unserer transatlantischen Verbündeten: »Nicht Taten sind das Problem, sondern die erschreckende Ruhe der guten Menschen. Das ist eine Lektion für uns alle. Wenn wir nur dastehen und nichts sagen, dann ist es so, als ob wir zustimmen«.
Und so ist eben die Frage, ob beispielsweise die Besetzung der Bundesversammlung ebenso gelaufen wäre, wenn es nicht einen gemeinsamen und ach so »sicher« scheinenden Kandidaten gegeben hätte. Wäre dann doch die Kompetenz der entsandten Vertreter mehr in den Mittelpunkt gerückt worden. Hätte sich bei Kontroverse und inhaltlicher Auseinandersetzung weniger das Parteiendiktat als das Gewissen des Einzelnen in seiner Wahl zeigen können (und müssen). So bleibt für uns alle zu hoffen, dass sowohl die Mitglieder der Bundesversammlung wie auch jeder demokratische Bürger nicht vorschnell oder gar vorgegeben urteilt und wählt, sondern sich zunächst einmal kundig macht und: Selbst denkt.
Also: Rufen wir nicht einfach vorschnell »Hurra«, wenn jemand infolge seiner scheinbaren oder anscheinenden Popularität und Kompatibilität mit Amt und Volk alternativlos erscheint. Sondern seien wir uns bewusst, dass die Vordenker unserer Demokratie bei einer »Wahl« tatsächlich eine ehrliche Möglichkeit zur Entscheidung im Sinn hatten. Und wenn es unter diesen Umständen dennoch Frank-Walter Steinmeier ist, der erwogen, geprüft und schlussendlich gewählt wird, dann: Haben wir gut entschieden. Du hast eine Wahl, demokratisches Deutschland!
Keynote Speaker Ingo Radermacher zum Thema Entscheidungsfindung.
Bild: Adobe Stock
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