#Digisophie | Nr. 7
Tesla oder warum ein Auto mehr
als ein Bordcomputer mit Batterie ist
Es galt über Jahrzehnte als des Deutschen liebstes Kind: gehegt und gepflegt, regelmäßig gewaschen, gewachst, gewartet. Nicht lediglich Fortbewegungsmittel, sondern persönliches – und gleichzeitig einmalig öffentlich wahrnehmbares – Geschmacks‑, Distinktions‑ und Statussymbol war das Auto seinem Besitzer. Welche Marke, welches Modell? Damit wurde nicht nur soziale Schichtzugehörigkeit, sondern ganze Weltsichten und Lebensentwürfe unübersehbar mitgeteilt.
Und gleichzeitig war das Automobil noch viel mehr: Ikone einer Weltwirtschaftsära – der »goldenen Jahre« –, sowie Sinnbild und Motor deutscher Wirtschaftsmacht. Schließlich fungierte die Automobilindustrie spätestens ab Mitte des 20. Jahrhunderts als Schlüsselindustrie für Deutschlands ökonomischen Aufschwung und anhaltenden Wohlstand.
Doch die Dinge scheinen sich zu ändern für »des Deutschen liebstes Kind«: Aktuelle Studien sehen die Bedeutung des Automobils im Abschwung. Vor allem jungen Menschen sei es nicht mehr so lieb; der Coolness-Faktor von Autos nehme seit der Millennium-Generation ab, und der erste eigene Wagen als Inbegriff lang ersehnter Freiheit und Selbstbestimmung – das sei so nicht mehr selbstverständlich, heißt es. Was die – viel bemühten und gern zitierten – einschlägigen Studien üblicherweise selten hergeben, ist eine differenziertere Sicht auf den Stand der Dinge. Das würde beispielsweise bedeuten, Faktoren zu berücksichtigen wie: a) die mögliche Zunahme der generellen Verfügbarkeit von Autos in Familien – und der entsprechend geringere Bedarf auf Seiten des Nachwuchses am »eigenen« Wagen; b) die Bereitschaft auf Seiten der Elterngeneration, als »Mobilitätsanbieter« – wahlweise persönlicher Chauffeur oder privater Carsharing-Anbieter – zu fungieren; c) die Urbanisierung gerade jüngerer Bevölkerungsgruppen, nicht zuletzt im Zusammenhang mit dem zunehmenden Anteil Studierender an den Schulabgängern: 30 Prozent in den 1970er Jahren, 60 Prozent im Jahr 2015. Gerade der Faktor »Urbanisierung« spielt eine entscheidende Rolle: Die symbolische Bedeutung des Automobils als Geschmacks‑, Distinktions‑ oder Statussymbol mag für die jüngere Generation im Abnehmen begriffen sein; seinen realen Wert indes behält das Auto auch für sie – spätestens, wenn der Wohnort nicht mehr Berlin-Mitte, sondern ein Vorort von Magdeburg oder der Spessart ist.
Fort vom emotionalen und hin zum nüchtern-pragmatischen Verhältnis zum Auto – diese Entwicklung konstatieren eingängige Studien. Doch es gilt: keine Studie ohne Gegenstudie. Gern angeführt wird beispielsweise als Grund für den Bedeutungsschwund, neben dem generationalen Wandel: der »female-shift«. Mit der wachsenden Gleichberechtigung wurden Frauen zu einer gesellschaftlich – etwa ökonomisch – relevanten Bevölkerungsgruppe; und Frauen haben, so das Klischee, allemal einen eher nüchtern-pragmatischen Bezug zum fahrbaren Untersatz. Doch auch hier irrt, wer allzu schlicht argumentiert – so eine Untersuchung der Universität Ulm: Jüngeren Forschungsberichten zufolge haben Frauen durchaus eine emotionale Beziehung zum eigenen Automobil: Sie schätzen und wertschätzen es, weil es, als nicht unwesentlicher Schritt zur Gleichberechtigung – wortwörtlich – vor allem für eines sorgt: mobile Autonomie.
Gleichwohl – ungeachtet aller gemutmaßten und tatsächlichen Trends in Sachen »Beliebtheit des Autos«: Dass gravierende Entwicklungs‑ und Umdenkprozesse im Gange sind, ist unbestritten – und in diesem Ausmaß in der Öffentlichkeit bislang nicht wahrgenommen. So entfielen laut Institut der deutschen Wirtschaft (IW) bereits 2015 nur noch 30 Prozent der Patentanmeldungen der deutschen Mobilitätsanbieter auf die konventionelle Antriebstechnik; mehr als die Hälfte weltweit angemeldeter Patente zum autonomen Fahren werden durch deutsche Hersteller angemeldet. Zwar wird, Berechnungen zufolge, gänzlich autonomes Fahren wohl erst in 30 Jahren Realität sein. Doch: Mit aller Macht arbeiten Forschung und Entwicklung schon heute darauf hin.
Eine weitere bedeutsame Entwicklung, wenn es um die Zukunft des Autos geht: digitale Mobilitätsplattformen – sicherlich ein Geschäftsmodell der Zukunft. Derzeit liefern sich Autobauer und Technologiekonzerne ein offenes Rennen – und beide Industrien nähern sich dem Ziel aus unterschiedlichen Richtungen: Die einen kommen über die Entwicklung und Forschung im Autobau, die anderen über die Entwicklung und Implementierung von Internetplattformen. Gewinner werden möglicherweise letztendlich die sein, die nicht versuchen, das gesamte Mobilitätskonzept anzubieten und abzuwickeln, sondern sich mit anderen – digitalen und analogen – Playern zusammentun. Denn ein Kernelement digitaler Geschäftsmodelle ist: Kooperation und Vernetzung. Hier ist vermutlich gerade von der traditionell auf Eigenständigkeit setzenden deutschen Automobilbranche Umdenken gefordert.
Auch in anderer Hinsicht wäre Umdenken klug. Wenn Autohersteller lediglich technischen und technologischen Fortschritt im Blick haben, wenn sie vorzugsweise auf Bordcomputer, Batterien oder assistiertes bis autonomes Fahren abzielen – und die Leitfrage allein lautet: Hat Tesla, Audi oder BMW die Nase vorn? Dann greift das möglicherweise zu kurz. Unabhängig vom vielbeschworenen »Bedeutungsschwund« waren und sind Autos auch künftig unabdingbar mit den Lebenswirklichkeiten, Lebensvorstellungen und der alltäglichen Lebenspraxis ihrer Nutzer verwoben – immer noch und künftig möglicherweise erst recht. Wie etwa Lebensgewohnheiten und automobile Nutzungsgewohnheiten ganz konkret zusammenhängen – dies wird beispielsweise Käufern von Elektromobilen schnell deutlich: Infolge der Dauer und Häufigkeit des Ladevorgangs wollen – insbesondere längere – Reisen völlig neu gestaltet werden. Sich darauf einzulassen, hat zu tun mit: Haltung, Einstellung, Lebenskonzept. Nicht bloß um technische Funktionalität und Design-Raffinesse geht es den Menschen – sondern auch um die Passung von Lebensvorstellungen, Lebens‑ und Nutzungsgewohnheiten.
Wenn das Nachdenken über Mobilität im Allgemeinen und Autos im Speziellen hier ansetzt – bei der Lebenswirklichkeit und den Lebensvorstellungen der Menschen –, wird die Diskussion deutlich breiter und überschreitet den begrenzten Horizont des bloß Technischen beziehungsweise Technologischen. Dann würden beispielsweise statt der Unterstellung, dass Menschen auch künftig in gehabtem Maße mobil sein werden (und wollen), auch einmal andere Zukunftsszenarios bedacht: beispielsweise eine denkbare Entwicklung hin zur »Regionalorientierung«. Möglicherweise verändert sich die Art, wie wir Menschen Mobilität denken und leben: verlagert sich manches ins räumlich Nahe und manches ins Digitale; und die »automobile Mobilität« nimmt gegebenenfalls im Individualisierungsgrad zu und in der Nutzungsfrequenz ab.
Eine gewinnbringende Diskussion um des Deutschen liebstes Kind dürfte hier ihren Anfang haben: bei der Überlegung, wie wir künftig leben wollen. Wenn wir von dort aus (auch) die Mobilitätsanforderungen in den Blick nehmen und Konzepte dafür entwickeln, ist die Frage nicht mehr: Hat Tesla, BMW oder Audi die Fahrzeugnase vorn? Sondern: Welches Antlitz hat unsere Welt und Gesellschaft künftig – auch in Sachen Mobilität?
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Über die Digisophie-Kolumne
In der Digisophie-Kolumne zeigt Ingo Radermacher regelmäßig andere Perspektiven auf und sucht Antworten auf grundlegende Fragen in unserer vom globalen digitalen Wandel geprägten – und teils bedrängten – Welt. Passgenau, nicht selten augenzwinkernd – stets rational, informiert und auf der Höhe der Zeit. Ingo Radermacher sucht als rationaler Klardenker Erklärungen, wie Zusammenleben, verantwortliches Handeln und kluge Entscheidungen heute und zukünftig gelingen können. Im Blick: Unternehmerisches und Berufliches ebenso wie ganz Privates, Gesellschaft ebenso wie Bildung, Politisches ebenso wie Ökonomie.
Bild: Adobe Stock
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