#Digisophie | Nr. 2
Digitales lernen – oder man kann es
nicht mehr begreifen
Kommt ein Kind auf die Welt, kann es hören, ein wenig riechen, kaum sehen; stark ausgeprägt ist hingegen sein Tastsinn. In den ersten Lebensmonaten und -jahren erkundet es damit unaufhörlich die Welt. Die meisten Tastsinn-Zellen befinden sich in Lippen und Zunge, Fingerspitzen und Fußsohlen – deshalb stecken Kleinkinder sich erst einmal alles in den Mund: be-greifen und er-fassen die Dinge ganz buchstäblich. Es scheint, als hätte das Prinzip des Lernens über den Tastsinn im Zuge der digitalen Wende auch Eingang ins Schulwesen gefunden. Bedeutet Digitales lernen die Revolution im Klassenzimmer? Wie können Schüler, Studenten, Lehrer, Dozenten und Eltern von den Möglichkeiten der Digitalisierung im Bereich der Bildung und Weiterbildung profitieren?
Learning by Tastsinn: Bildung mit allen Sinnen
Nicht nur im Kleinkindalter, sondern auch im weiteren Leben bleibt das größte Sinnesorgan des Menschen grundlegend wichtig. Der Mensch, homo sapiens, könnte auch »homo hapticus« genannt werden, derart elementar ist der Tastsinn für unser Erleben: Wir können uns die Ohren, Nase oder Augen zuhalten; der Tastsinn indes ist stets »on« – auch nachts beispielsweise. Unentwegt erspüren wir unsere Umgebung: physikalische Beschaffenheit, Rauheit oder Glätte, Härte oder Weichheit, Druck oder Zug, Vibration oder Ruhe, Wärme oder Kälte. Und, ganz wichtig: Wir spüren dabei stets auch uns selbst; für die eigene Körperwahrnehmung ist der Tastsinn fundamental. Er ist ein sogenannter Basissinn – Grundlage für die Verarbeitung aller anderen Sinneseindrücke, und maßgeblich für Entwicklungs- und Lernprozesse sowie für die Entscheidungsfindung. Tastempfindungen, andere Sinneswahrnehmungen und kognitive Leistungen sind – und bleiben lebenslang – aufs Engste verwoben; entscheidend für Entwicklung und Lernen ist ihr Zusammenspiel. Schulische Bildungsprozesse beispielsweise verlaufen dann optimal, wenn sie das berücksichtigen: Wenn sie Schülerinnen und Schüler »mit allen Sinnen« ansprechen, die Lernenden im wahrsten Sinne des Wortes an die Hand nehmen.
Digital unterstütztes Lernen ist mehr als die technische Ausstattung
Was bedeutet das für den hochprominenten Themenbereich »digitales Lernen« und digitale Weiterbildung? Zunächst einmal ist festzustellen: Der bundesdeutsche Fokus in Berichterstattung und bildungspolitischer Forderung, beispielsweise der »Schulpakt Digital«, richtet sich – irreführend und in die Irre gehend – auf lediglich eines, und zwar: die technische Ausstattung. »Whiteboards statt Kreidetafeln in jedes Klassenzimmer!«, »Computer oder Tablet für jeden Schüler!« – Wenn es einzig um die Investition in die bloße Ausstattung von Schulen und Schülern mit Medientechnik geht, hat das mit Lernen, auch mit digitalem Lernen, erst einmal wenig bis nichts zu tun – und geht zu Lasten all dessen, was heute für einen guten Unterricht als eigentlich wesentlich gilt bzw. gelten sollte.
Sicherlich, Studien und Publikationen belegen, dass in erster Linie Handlungsbedarf bei der technischen Ausstattung einer Schule, Universität oder anderen Bildungseinrichtung besteht. Hier liegt der erste und oft größte Stolperstein beim Projekt »Lernen mit digitalen Medien«. Das heißt im Umkehrschluss jedoch nicht, dass eine gesponserte neue IT-Infrastruktur von selbst kreative Praxisbeispiele emergiert, wie guter Unterricht mit geeignetem Medieneinsatz gelingt. Die Strategie, digitale Medien zum Lehren und Lernen einzusetzen, hört nicht mit der Beschaffung des Materials auf.
Unausgeschöpfte Gestaltungsbreite: Digitale Learning-Methoden
Gute Schule, guten Unterricht, kennzeichnet vor allem: Methodenvielfalt und Gestaltungsbreite. Ingredienzien, beispielsweise: das soziale Miteinander, die Kommunikation, das kritische oder konstruktive Gespräch, die Reflexion. Und unabdingbar ist, wie jeder Pädagoge heute weiß: Lernen mit allen Sinnen. Nun ist zwar auch das Wischen über ein Smartphone oder ein Tablet eine sinnliche – haptische – Erfahrung: Die Klage mancher Frau, ihr Mann sei zu seinem iPhone zärtlicher als zu ihr, entbehrt nicht unbedingt jeden Realitätsbezugs. Wenn es allerdings ernsthaft um die Gestaltung optimaler Lernbedingungen für unsere Kinder und Jugendlichen geht, stellt sich die Forderung nach der unentbehrlichen Gestaltungsbreite und Methodenvielfalt dringlich: Erleben mit allen Sinnen, gerade auch haptisch »grundiertes«, begreifendes Erleben – etwa als konkreter Umgang mit den unterschiedlichsten Materialien und Gegebenheiten – ist etwas gänzlich anderes als die gleichförmige Erfahrung des Streichens über eine iPad- oder Tablet-Glasscheibe.
Zur notwendigen Gestaltungsbreite gehört weiter, gerade auch das Thema »Digitalisierung« vielfältig anzugehen: Das mathematische und das informatische Denken wollen gelehrt und gelernt werden! Denn dies – und nicht etwa die exorbitante Investition in flächendeckende Tablet-Versorgung – versetzt unseren Nachwuchs in die Lage, sich auch morgen in Gesellschaft und Welt zurechtzufinden und aktiv an ihr teilzuhaben: Sie zu begreifen und zu gestalten.
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Über die Digisophie-Kolumne
In der Digisophie-Kolumne zeigt Ingo Radermacher regelmäßig andere Perspektiven auf und sucht Antworten auf grundlegende Fragen in unserer vom globalen digitalen Wandel geprägten – und teils bedrängten – Welt. Passgenau, nicht selten augenzwinkernd – stets rational, informiert und auf der Höhe der Zeit. Ingo Radermacher sucht als rationaler Klardenker Erklärungen, wie Zusammenleben, verantwortliches Handeln und kluge Entscheidungen heute und zukünftig gelingen können. Im Blick: Unternehmerisches und Berufliches ebenso wie ganz Privates, Gesellschaft ebenso wie Bildung, Politisches ebenso wie Ökonomie.
Bild: Adobe Stock
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